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André Breton : Manifest des
Surrealismus (1924)
[...] Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik - darauf wollte ich
allerdings hinaus. Aber die logischen Methoden unserer Zeit werden nur
noch auf die Lösung von Problemen zweiter Ordnung angewendet. Der
absolute Rationalismus, der noch in Gebrauch ist, erlaubt lediglich die
Berücksichtigung von Fakten, die eng mit unserer Erfahrung verknüpft
sind. Die logischen Zwecke hingegen entgehen uns. Unnötig hinzuzufügen,
daß auch der Erfahrung Grenzen gesteckt wurden. Sie windet sich
in einem Käfig, aus dem sie entweichen zu lassen immer schwieriger
wird. Auch sie stützt sich auf die unmittelbare Nützlichkeit,
auch sie wird vom gesunden Menschenverstand bewacht. Unter dem Vorwand
der Zivilisation, des Fortschritts, gelang es schließlich, alles
aus dem Geist zu verbannen, was mit Recht oder Unrecht als Aberglaube,
als Hirngespinst gilt, jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die
nicht der herkömmlichen entspricht. Vor kurzem ist - scheinbar durch
den größten aller Zufälle - ein Teil der geistigen Welt
wieder ans Licht gehoben worden, meines Erachtens der weitaus wichtigste,
um den sich zu bekümmern man nicht mehr für nötig befand.
Freuds Entdeckungen gebührt unser Dank. Auf Grund dieser Entdeckungen
bildet sich endlich eine neue geistige Richtung heraus, die es begünstigt,
daß der Erforscher des Menschlichen seine Untersuchungen weiter
vorantreiben kann, ihn bevollmächtigt, nicht mehr nur summarische
Erfahrungen zu berücksichtigen. Die Imagination ist vielleicht im
Begriff, wieder in ihre Rechte einzutreten. Wenn die Tiefen unseres Geistes
seltsame Kräfte bergen, befähigt, diejenigen der Oberfläche
zu mehren oder sie siegreich zu bekämpfen, so haben wir allen Grund,
sie aufzufangen, sie zuerst aufzufangen und danach, wenn nötig, der
Kontrolle unserer Vernunft zu unterwerfen. Selbst die Analytiker können
dabei nur gewinnen. Wichtig ist jedoch zu bemerken, daß keine Methode
a priori zur Verwirklichung dieser Unternehmung bestimmt ist; daß
diese bis auf weiteres ebenso als der Domäne der Dichter zugehörig
gelten kann als der der Gelehrten; und daß ihr Erfolg nicht abhängt
von den mehr oder weniger gewundenen Wegen, die man wählen wird.
Mit vollem Recht hat Freud seine Kritik auf das Gebiet des Traums gerichtet.
Es ist in der Tat ganz unzulässig, daß dessen beträchtlicher
Anteil an der psychischen Tätigkeit (erfährt doch - zumindest
von der Geburt bis zum Tode - die geistige Tätigkeit des Menschen
keinerlei Unterbrechung, und ist doch die Summe der Traum-Momente, selbst
wenn man nur den reinen Traum, den des Schlafs, in Betracht zieht, nicht
geringer als die Summe der Wirklichkeits-Momente, sagen wir einfach: der
Wachseins-Momente), daß dieser beträchtliche Anteil des Traums,
sage ich, noch so wenig Aufmerksamkeit hat erlangen können. Die Tatsache,
daß die Ereignisse des Wachseins und die des Schlafes dem gewöhnlichen
Beobachter von so äußerst verschiedener Wichtigkeit und Bedeutung
erscheinen, hat mich schon immer in Erstaunen gesetzt. Der Mensch ist
eben, wenn er nicht mehr schläft, vor allem ein Opfer seines Gedächtnisses,
welches sich darin gefällt, ihm im Normalzustand die Traumereignisse
nur schwach nachzuzeichnen - dem Traum jedoch all seine Folgenschwere
zu benehmen und als einzige Determinante den Zeitpunkt zu sehen, wo der
Mensch glaubt, sie vor einigen Stunden zurückgelassen zu haben: jene
Hoffnung, jene Sorge. Der Traum sieht sich auf diese Weise, auf eine Einklammerung
reduziert, wie die Nacht. Und nicht mehr als sie bringt er gemeinhin Rat.
Diese merkwürdige Sachlage scheint mir zu einigen Überlegungen
aufzufordern:
1. Innerhalb der Grenzen, in denen er sich produziert (zu produzieren
scheint), erscheint der Traum durchaus als kontinuierlich, zeigt er eine
gewisse Organisation. Das Gedächtnis nur maßt sich das Recht
an, ihn zu beschneiden, Übergänge nicht zu beachten und uns
eher eine Reihe von Träumen vorzuführen als den Traum. Desgleichen
haben wir von den Realitäten nur im einzelnen Augenblick eine deutlich
unterschiedliche Vorstellung, und ihre Koordination ist Sache des Willens.
[1]
Und es drängt sich hier die wichtige Beobachtung auf, daß nichts
uns ermächtigt, auf eine größere Auflösung bei den
Traum-Elementen zu schließen. Ich bedaure, darüber in Formeln
zu sprechen, die eigentlich den Traum ausschließen. Wann werden
wir schlafende Logiker, schlafende Philosophen , haben? Ich möchte
schlafen, um mich den Schlafenden hingeben zu können, wie ich mich
denen hingebe, welche mich mit offenen Augen lesen, um bei diesem Thema
nicht mehr den bewußten Rhythmus meines Denkens überwiegen
zu lassen. Mein Traum der letzten Nacht setzt vielleicht den der vorhergehenden
Nacht fort, und vielleicht erfährt er in der kommenden Nacht seine
Fortsetzung in löblicher Folgerichtigkeit. Das ist wohl möglich,
heißt es. Und da es keineswegs erwiesen ist, daß auf diese
Weise die .Wirklichkeit', die mich beschäftigt, im Traume weiterbesteht,
daß sie nicht ins Unerinnerliche versinkt - warum sollte ich dem
Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere,
jenen Wert der eigenen Gewißheit nämlich, der während
der Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte
ich vom Exponenten des Traums nicht noch mehr erwarten als ich von einem
täglich höheren Bewußtseinsgrad erwarte? Kann nicht auch
der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen? Und diese
Fragen, sind es die gleichen in beiden Fällen und sind sie im Traume
bereits? Enthält der Traum weniger Gesetzeskraft als das übrige
Leben? Ich altere, und vielleicht ist es - mehr noch als diese Wirklichkeit,
der ich mich unterworfen glaube - der Traum, meine Gleichgültigkeit
ihm gegenüber, welche mich altern läßt. [...]
Nur böser Wille vermöchte uns das Recht streitig machen, das
Wort Surrealismus in dem von uns verstandenen besonderen Sinne zu gebrauchen;
denn es ist klar, daß es vor uns keinen Erfolg gehabt hat.
Ich definiere es also ein für allemal:
SURREALISMUS, Substantiv, m., reiner, psychischer Automatismus, durch
welchen man, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede
andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht.
Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen
oder ethischen Fragestellungen.
ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben
an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis heute vernachlässigter
Assoziations-Formen, an die Allgewalt des Traums, an das absichtsfreie
Spiel des Gedankens. Er zielt o darauf hin, die anderen psychischen Mechanismen
zu zerstören und ihre Stelle einzunehmen zur Lösung der wichtigsten
Lebensprobleme. [. . .] (1924 )
(1) Man muß die - Tiefe - im räumlichen Sinne des Traums in
Rechnung stellen. Im allgemeinen behält man nur, was von seinen oberflächlichsten
Schichten stammt. Was ich besonders an ihm in Betracht ziehen möchte,
ist das, was beim Erwachen untergeht, alles, was nicht Übriggebliebenes
ist vom vorhergehenden Tag, dunkles Laub, blödes Gezweig. Auch in
der ,Wirklichkeit' ziehe ich es vor, zu fallen.
Elemente des Surrealismus
Écriture automatique
1919 Entdeckung der écriture automatique (vgl. Siepe 1995, 342ff)
wie sie von Breton und Soupault in den Champs magnétiques als Ergebnis
eines auf der Basis von Intuition und Inspiration durchgeführten
naturwissenschaftlichen Experimentes durchgeführt wurde. Hierbei
geht es nicht um einen neuen Stil oder neue Schreibverfahren, sondern
um die Erschließung innerer Vorgänge, die Fixierung psychischer
Reaktionen. Damit bricht bereits eine wahre Ära der automatisch produzierten
Textebricht an (Séancen, Schreiben in Trance, Traumprotokolle);
so veröffentlicht Breton in Littérature das Protokoll einer
Séance, auf der Crevel, Desnos und Péret als Medien fungieren
und in Trance reden, schreiben und zeichnen. Doch geriet dieses Verfahren
schnell an seine Grenzen, wenn es um einen reinen und ungefilterten Automatismus
ging: Immer wieder ergab sich die Tendenz zur Reproduktion, immer wieder
griff der Autor mehr oder weniger in die sprachliche Gestaltung ein und
geriet damit in die Gefahr sprachlicher oder ästhetischer Kontrolle.
Trotz ihrer inhärenten Sprachattacke bleibt die écriture automatique
letztlich wohl doch 'nur' ein neues poetisches Verfahren.
Sprachspiele: "Die Wörter machen Liebe" (Breton)
Surrealistische Spiele mit der Sprache auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen,
magische Wortexperimente, die in einer analogen Wahrnehmung Sprache und
Welt, Wörter, Dinge und Gefühle zusammenbringen wollen.
Cadavre Exquis: Le cadavre - exquis - boira - le vin - nouveau.
Bezugnahme auf Mallarmés semantisches Programm und die Evokationskraft
des Wortes, Respektierung der Eigenwelt der Sprache ebenso wie auf Lautréamont:
"Die Dichtung muß von allem gemacht werden, die Dichtung muß
für alle sein." [Lautréamont: Poésies. In: Oeuvres
Complétes, Bd II, Paris 1963, S. 374]
Bretons 'kühne Metapher' (Programmpunkt des 1. Manifestes): Kühnheit
liegt in der Entfernung der Realitäten, die zusammengebracht werden
sollen (vgl. Pierre Reverdy), in der willkürlichen Bildspanne.
Bedeutung des Traums:
Traum als Katalysator zur Vereinigung zweier Welten, einer inneren und
einer äußeren. Auch die Romantiker hatten den Traum schon zu
ihrem Thema gemacht, jedoch unter anderen Vorzeichen. Der Surrealismus
sieht den Traum mit dem Lustprinzip verbunden als Möglichkeit zur
Wunscherfüllung. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Anwendung
richten die Surrealisten ihr Traumprogramm auf ein poetisches Ziel: dabei
geht es nicht um die Erhellung des Bewußten durch das Unbewußte,
sondern um den ausdrücklichen Vorrang des Unbewußten.
Zufall
In der Anfangsphase ein Prinzip zum Verfertigung von Texten, für
literarische Gesellschaftsspiele und Gruppenausflüge, die Verfügbarmachung,
"le hasard en conserve" (Duchamp) kam erst später. Der
hasard objectif wurde zu einer zentralen Kategorie, die Breton als Begegnung
einer äußeren Kausalität und einer inneren Finalität
definiert. So gilt der Zufall als Begriff für die Konstitution des
Subjekts und seiner Beziehung zur Wirklichkeit, aber auch als ästhetisch-organisierendes
Prinzip, das nur scheinbar ohne den Künstler funktioniert.
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